Die Ideologie ist tot.....es lebe der Mensch

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Aragaorn
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Die Ideologie ist tot.....es lebe der Mensch

Beitrag von Aragaorn »

Anarchisten diskutieren in Barcelona

Die Ideologie ist tot, es lebe der Mensch, taz 08.10.93



Die Ideologie ist tot, es lebe der Mensch
taz vom 8.10.93 Seite 9
Wenn die Gewißheit verdampft: Anarchisten diskutieren in Barcelona über die Welt und raten verwirrten Zeitgenossen, sich des eigenen Verstandes zu bedienen

Barcelona (taz) - Ein Saal, gefüllt mit tausend Leuten jeden Alters und aus sicherlich 20 verschiedenen Ländern, die, ohne einer Partei anzugehören, mehrere Tage hintereinander, mal ernst, mal fröhlich, die grundlegende Veränderung dieser Welt besprechen - allein schon, daß so etwas funktioniert, ist erfreulich. Barcelona war einmal die Hauptstadt des Anarchismus. In diesen Tagen ist die Stadt wieder zum Mittelpunkt dieser Bewegung geworden.

Das Treffen im centre civic im Stadtteil Sants nennt sich "Anarchismus - Internationale Ausstellung". Der merkwürdige Titel hat damit zu tun, daß es sich bei den sieben Veranstaltern um Stiftungen oder Forschungszentren handelt. Und die hatten es auch in der traditionellen Stadt der Libertären nicht leicht, die entsprechenden Örtlichkeiten für ein Treffen zu finden. 1992 lehnte es die Stadtverwaltung der Olmypiastadt rundheraus ab, den Organisatoren Räume zur Verfügung zu stellen. Jetzt, ein Jahr später, hat man immerhin einen großen und einen kleinen Vortragssaal, ein Zelt, eine improvisierte Bar und eben Ausstellungsfläche gefunden. In diesem Sinn ist der Begriff Ausstellung nicht einmal falsch. Im Vorraum des großen Hörsaals sind viele bunte Tafeln aufgebaut, die über die Geschichte der internationalen anarchistischen Bewegung informieren.

Anarcho-Dino

Freitag, der 1. Oktober, war in Spanien "Dinosauriertag". An diesem Tag lief im ganzen Land "Jurassic Park" an - ein Medienereignis, ganz im Gegensatz zu dem Anarchistentreffen, das in der spanischen Presse vollkommen ignoriert wird. Gehört das, was da im centre civic abläuft, trotzdem zum Dino-Tag? Antonio López Campillo, ein ungemein lebhafter, sympathischer, graubärtiger Physiker im Rentenalter, der gerade auf dem Podium zum Thema "Wissenschaft und Anarchismus" brilliert, hat auch bei den Libertären bisweilen Dinosaurier ausgemacht. Nach seiner Ansicht sind manche der Compañeros irgendwann in ferner Vergangenheit stehengeblieben. Technikfeindlichkeit ist für ihn keine Lösung, trifft nicht den Kern; die Wissenschaft sei kein extraterrestrisches Monster, das ein unfähiges Volk versklave, sie werde von Menschen gemacht und sei deshalb auch von Menschen kontrollierbar.

Was sich da zunächst wie eine bürgerliche Position anhört, wird bei Campillo zur Aufforderung, libertäre Politik den Zeiten anzupassen. "Es gibt keine Retter, wir müssen uns selber retten!" Wie viele auf den Podien und im Saal hat Campillo Spaß an der Provokation. Seine anarchistische Moral verpflichtet ihn, alles immer wieder in Frage zu stellen - auch die eigenen Überzeugungen. Der Anarchismus lebt von Personen, und das Faszinierende in Barcelona sind deshalb vor allem die einzelnen Persönlichkeiten. Campillo ist nur einer jener angry old men (and women), die man im centre zuhauf treffen kann. Dennoch ist "die Ausstellung" nichts weniger als ein Veteranenteffen. Das Publikum ist bunt, alle Generationen sind vertreten.

Bei den Grundsatzdebatten zum Thema "Der Anarchismus und die Krise der Ideologien", die am ersten Wochenende das Treffen bestimmen, dominieren freilich auf dem Podium noch die grauen Haupt- und Barthaare. Die meisten der ReferentInnen sind gestandene Akademiker, Soziologen, Philosophen, Politologen, die ihren Bakunin, ihren Marx, aber auch die aktuellen Debatten ihres Faches kennen. Sie diskutieren über den Staat und die Nation, das Individuum und die Gesellschaft. Gelegentlich wird vor allem bei den Jungen ein Unwillen der allzu akademischen Diskussion gegenüber laut. "Zuviel Credo, zuwenig Anleitung zum Handeln", wirft man dem Podium vor. Auf der anderen Seite zeigt sich, daß es auch anarchistische Gurus gibt. Einer davon ist Agustin Garcia Calvo, ein Professor der Linguistik aus Madrid. Er ist eine imposante Erscheinung, fast mephistophelisch in seinem Aussehen und Auftreten, ein "Prophet der Negation", der, wie es scheint, über einen regelrechten Fanclub verfügt. In Spanien ist er wegen seines Grundsatzstreites mit dem Fiskus bekanntgeworden: er weigert sich seit Jahren, eine Steuererklärung abzugeben. In einer Veranstaltung erläutert er seinen Kampf gegen den Staat in einer one-man-show, die zu einem eleganten Diskurs über die Funktion des Geldes in der Gesellschaft wird: Geld, abstrakt wie die Macht, ist für Garcia Calvo das "Opium fürs Volk" der Gegenwart. So schön wie er trägt das keiner vor.

Ganz anders tritt da José Maria Nunes auf, ein portugiesischer Filmemacher, der seit Jahrzehnten in Barcelona lebt, einer jener liebenswerten Menschen, die den Anarchismus einfach leben und damit die Utopie persönlich greifbar machen. Die Art, wie er zur Eröffnung der Reihe des libertären Kinos in der Filmoteca von Barcelona über die Parallelen von Kino und Anarchismus spricht, hat etwas Herzerfrischendes: Jeder Künstler ist Anarchist und Kino die anarchistischste aller Künste!

Gezeigt wird "El vindicador" (Der Rächer), ein Film, den Osvaldo Bayer 1989 produziert hat. Es geht um Leben und Sterben des deutschen Anarchisten Kurt Gustav Wilckens, der 1923 den argentinischen General Hector Banigno Valera umbrachte, den "Schlächter von Patagonien", der 2.000 streikende Arbeiter niedermetzeln ließ. Wilckens fiel später im Gefängnis einem Attentat zum Opfer. Wer weiß in Deutschland, daß damals in Argentinien eine große Zahl von Neugeborenen die ungewöhnlichen Namen Kurt Gustav erhielt?

Libertär und machtlos

Seit dem Spanischen Bürgerkrieg haben sich vermutlich nicht mehr so viele Libertäre aus so vielen Ländern in Barcelona zusammengefunden. Selbst aus Kroatien sind zwei Anarchisten angereist. Ljubo Milicevic, seit Jahren zwischen Paris und Zagreb hin- und herpendelnder Libertärer, will in Barcelona Kontakte für eine geplante Zeitschrift in Kroatien schaffen. Sein Bericht über die Lage in Ex- Jugoslawien holt die traurige Realität zurück. Angesichts der sich etablierenden "Ethnokratien" befällt die hier Versammelten fast so etwas wie eine Lähmung.

Der Anarchismus heute ist als Bewegung zu schwach, als daß er politisch in die großen Konflikte der Welt entscheidend mit eingreifen könnte. Auch das ist eine Erkenntnis, die in Barcelona viele offen eingestehen. Doch die Welt würde noch trister werden, wenn sie die Anstöße, die libertäre Theorie und Praxis geben kann, völlig ignorieren würde.



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Ciao Anarchici
taz vom 30.09.1993 Seite 20, Thomas Pampuch

1984, als die alte Zukunft vorbei war und die neue auch schon nicht mehr das, was sie einmal mal war, trafen sich in Venedig einige tausend muntere Gesellinnen und Gesellen und nahmen die Lagunenstadt friedlich in Besitz. Auf dem Campo San Polo und dem Campo Santa Margherita waren Zelte errichtet worden, es gab Essen und Trinken, Musik und Tanz, überall wurde diskutiert, gesungen, gefeiert.


Im Gebäude der Architekturfakultät saßen allerlei verdiente Theoretiker, Kämpfer und Kämpferinnen der libertären Bewegung und redeten sich die Köpfe heiß. Es ging um die "Ware, die das Ego kolonisiert", um "die Auflösung und den Verfall der Arbeit", um klassische Insurrektionsmodelle und neue Formen libertärer Betätigung, um grassroots und um den "anarchistischen Geist", der mindestens genauso wichtig sei wie die Bewegung selbst. Den "Abschied vom Anarchisterich mit dem Attentatterich (Erich Mühsam)" konstatierte damals die taz. Der freilich war schon immer eher ein bürgerliches Schreckgespenst als anarchistische Wirklichkeit.

Venedig '84 ging als eine Art libertäres Woodstock in die Annalen der anarchistischen Bewegung ein. "Das Treffen hatte nichts mit einem Kongreß gemein; es wurden keine Resolutionen verabschiedet, und niemand war irgend jemandes Delegierter", stellte der Bildband "Ciao Anarchici" fest, der ein Jahr später das große Fest dokumentierte. Der Sinn und Zweck des Ganzen lag im Treffen selbst, im networking, so lautete der damals gerade frisch gebackene Begriff.

Neun Jahre hat es gedauert, bis wieder ein internationales Anarchistentreffen zustande gekommen ist. Unter dem (katalanischen) Titel "Anarquisme, Exposici internacional" findet es derzeit (bis zum 10. Oktober) in Barcelona statt.

Was ist aus dem Anarchismus seither geworden? Nimmt man die organisierte Bewegung, sicherlich nicht die Welt. Aber gehört nicht die Losung "small is beautiful" ohnehin zum anarchistischen Credo? Nimmt man den "anarchistischen Geist", so ist er im Gegensatz zu seinen alten Antipoden innerhalb der Linken, den dogmatischen Parteimodellen, zumal den staatssozialistischen, gewiß nicht auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet. Die von ihm mitbefeuerten "Grassroots"- und alternativen Bewegungen haben den Sturz des "realen Sozialismus" unbeschadet überlebt, hier und dort sogar kräftig daran mitgewirkt.

Grund zu Triumph für die Libertären? Wohl kaum, wenn man sieht, was an brauner Soße allein aus dem poststalinistischen Müll wabert. Müllhaufen sind gefährlich, ganz besonders die der Weltgeschichte. Bisweilen entstehen neue gefährliche Verbindungen mit anderem Müll, der dort bereits gelagert ist. Da mutieren Parteikommunisten zu Nationalisten und Faschisten, FDJler zu Rechtsradikalen. Die braven Bürger eines "sozialistischen" Gemeinwesens verkommen zuweilen zu ethnischen Säuberern.

Näher ist die friedliche anarchistische Utopie nicht gerückt in den 90er Jahren. Vielleicht wird es in Barcelona deshalb nicht ganz so fröhlich zugehen wie in Venedig. Oder vielleicht gerade - nach dem Motto: jetzt erst recht? Auf jeden Fall gibt es viel zu tun für den Anarchismus. Denn noch nie war er so wertvoll wie heute.

und in diesem sinne
es lebe das leben
viva la vida
aragaorn
:twisted:
gruender der esoterischen studiengemeinschaft fuer amulettkunde und talismanologie 1970 berlin..E.S.A.T.
werkstaette fuer digitale symbolverarbeitung
berlin 1970
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